Am 6. Oktober 2024 nahmen Mitglieder der Alboffensive und Freund*innen an einem Ausflug zur Gedenkstätte Grafeneck mit Führung teil. Uns ging es darum, mehr über die NS-Verbrechen an behinderten Menschen zu erfahren.
Grafeneck liegt bei Gomadingen im Kreis Reutlingen und ist Tatort des Nazi-Massenmords an behinderten Menschen. Das Schloss in Grafeneck gehörte seit 1928 der Samariter-Stiftung, die hier Männer mit körperlichen Behinderungen unterbrachte.
Am 14. Oktober 1939 beschlagnahmten die Nazis die Anstalt „für Zwecke des Reiches“ mit dem Ziel hier eine Tötungs-Anstalt einzurichten. Von Oktober 1939 bis Januar 1940 Grafeneck in eine Mordanstalt umgebaut.
Die ersten systematischen Morde fanden am 18. Januar 1940 statt und die letzten am 13. Dezember 1940. Innerhalb von weniger als einem Jahr wurde in der Vernichtungsstätte Grafeneck 10.654 Menschen mit psychischen und physischen Behinderungen ermordet.
Davon kamen auch 67 aus dem Zollernalbkreis, u.a. aus Albstadt-Ebingen.
Die Opfer stammten aus 49 oder 50 Kliniken und Einrichtungen, vor allem aus Baden-Württemberg, aber auch aus Bayern, Hessen und dem heutigen Nordrhein-Westfalen. Die meisten Einrichtungen wurden von der Kirche betrieben, die sich durch die Preisgabe ihrer Schutzbefohlenen mitschuldig machte.
Bei diesem als „Euthanasie“ (Griechisch für ’schöner Tod‘) verharmlosten Verbrechen wurde erstmals systematisch eine Gaskammer eingesetzt. Die Opfer wurden in 15 bis 20 Minuten qualvoll mit Kohlenstoffmonoxid erstickt.
Im Schnitt wurden 75 Personen pro Tag ermordet. Dafür wurden pro Tag 25 Personen mit je einem Bus nach Grafeneck deportiert. Diese Deportationen wurden als Verlegung in die Anstalt Grafeneck getarnt. Zur Verschleierung des Massenmords wurde ein Sonderstandesamt Grafeneck eingerichtet, welches gefälschte Sterbeurkunden ausstellte. Man versuchte so gegenüber der Bevölkerung den Massenmord zu verheimlichen.
Schnell sprach sich aber herum das aus Grafeneck niemand zurück kehrte. Auch die umliegende Bevölkerung bekam von dem mörderischen Treiben mit.
Das Täter-Personal umfasste 100 Personen und stammte vor allem aus dem Großraum Berlin und Stuttgart. Es handelte sich um Ärzte, Polizeibeamte, Büroangestellte, Pflege- und Transportpersonal, Wirtschafts- und Hauspersonal sowie Wachmannschaften und Leichenbrenner. Sie wurden im Schloß untergebracht. Das Täter-Personal lebte aber nicht isoliert vom Rest der Gegend. So gingen viele TäterInnen in ihrer Freizeit nach Münsingen. Als sie in einer Kneipe mit betrunken ihre Untaten zu offen schilderten, folgte ein Alkohol-Verbot.
In Grafeneck wurden auch drei Ärzte eingesetzt. Einer davon war Dr. Horst Schumann (1906-1983). Er mordete von Januar 1940 bis Ende Mai/Anfang Juni 1940 in Grafeneck, später in der Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein und danach als Lagerarzt in Auschwitz-Birkenau.
Schumann wurde in einem Prozess beschuldigt 15.000 Menschen ermordet zu haben. Er kam 1971 nach vier Jahren Haft frei und hat noch bis 1983 gelebt. Insgesamt wurde von den 100 TäterInnen fast niemand verurteilt.
Die in Grafeneck gemachten ‚Erfahrungen mit Massenmord‘ waren Ausgangspunkt für andere NS-Verbrechen wie den Holocaust. Hier gab es viele personelle Kontinuitäten.
Ab Ende 1940 zogen die TäterInnen weiter und waren an weiteren NS-Verbrechen beteiligt. Schließlich ging im Mai 1945 der Krieg verloren und 1947 wurde Grafeneck an die Samariter-Stiftung zurück gegeben. Es zogen wieder behinderte Menschen ein und leben bis heute hier.
Lange Zeit herrschte ähnlich wie in Bezug auf andere NS-Verbrechen Verdrängung vor. So wurde im Jahr 1965 das barackenartige Gebäude, in dem sich die Gaskammer befunden hatte, abgerissen.
Doch enstanden nach und nach Denkmäler und im Oktober 2005 eröffnete in Grafeneck ein Dokumentationszentrum. Heute ist Grafeneck ein Wohnort und gleichzeitig eine Gedenkstätte, die von 400 Besuchsgruppen pro Jahr besucht wird.
Homepage der Gedenkstätte: www.gedenkstaette-grafeneck.de