Vorbemerkung: Im Folgenden wird manchmal die Bezeichnung „Zigeuner“ bzw. schwäbisch „Zigeiner“ als Zitat verwendet, obwohl die Minderheit der Sinti und Roma diesen Begriff mehrheitlich als herabwürdigend und beleidigend versteht und deswegen ablehnt.
In diesem Fall wird „Zigeiner“ aber von dem Sinto Lolo Reinhardt, um dessen Lebensgeschichte es in dem Buch geht, selber verwendet. Aus Respekt vor seinem Zeugnis wollen wir nicht nachträglich korrigieren oder nur indirekt zitieren.
Das 1999 erschienene Buch „Überwintern. Jugenderinnerungen eines schwäbischen Zigeuners“ schildert die Lebensgeschichte von Friedrich Reinhardt (1932-1994), genannt „Lolo“, ergänzt von seiner Schwester Maria Winter (* 1926), genannt „Märza“.
Beide sind Mitglieder der Minderheit der Sinti, einer Roma-Gruppe die seit über 600 Jahren im deutschsprachigen Raum anzutreffen ist. Diese Minderheit war immer wieder Verfolgung, Diskriminierung und Ausgrenzung ausgesetzt. Im Nationalsozialismus steigerte sich die Diskriminierung bis zum Völkermord, dem etwa 500.000 Angehörige dieser Minderheit zum Opfer fielen.
Diese Verfolgung fand auch in der schwäbischen Provinz statt. Die Lebensgeschichte von Lolo Reinhardt findet genau hier statt und wird dann auch im Nationalsozialismus eine Geschichte der Verfolgung.
Da Lolo und Märza „schwäbische Zigeiner“ gewesen sind, wurden ihre Berichte im Buch von der Herausgeberin im Original-Schwäbisch belassen. Hinzu kommt im Buch eine Erzählung von Richard Scherer und ein Nachwort der Herausgeberin Monika Döppert.
Das Buch basiert auf Tonkassetten mit Interviews, die Monika Döppert 1992 bis 1994 mit Lolo Reinhardt geführt hat und die sie durch Gespräche mit dessen Schwester Märza ergänzt hat. Zu ihrer Entscheidung die Interviews nicht zu ‚verhochdeutschen‘ schrieb Döppert: „Lolo Reinhardt sprach als schwäbischer Sinto mit der Muttersprache Romanes ein eigenwilliges Schwäbisch mit unorthodoxen Satz- und Wortbildungen. Bei einer Übertragung ins Hochdeutsche wäre zu viel von der Ausdruckskraft des Textes verloren gegangen.“ (Seite 155)
Lolo Reinhardt und seine Familie lebten anfangs noch als Fahrende, d.h. sie bewegten sich mit dem Pferdewagen von Ort zu Ort. Diese Lebensweise war das Resultat starker Ausgrenzung durch die Mehrheitsbevölkerung. Heute wird diese Lebensweise in Deutschland nur noch von einer kleinen Minderheit der Minderheit praktiziert.
Ausgrenzung erfuhr auch Lolos Vater schon vor 1933, wie Lolo berichtet: „Mein Vater hat des immer erzählt: Da und da hat mr net könne stehe. Da war Schlägerei, da sin sie komme und hen d‘Wäge umg‘schmisse, da hen se die Fraue verhaue und so weiter und so fort.“ (Seite 23)
Die Sinti-Familie mit sechs Kindern lebte eher am Rand der Gesellschaft. Lolos Familie verdingte sich als Hausierer, Schausteller und Musiker oder im Pferdehandel. Lolo berichtet dass seine Eltern Analphabeten waren. Die Verhältnisse, in denen Lolo aufwächst, waren bitterarm: „Früher, mit de alte Währung, hat mr ein Paar Schuh g‘het, und die waret net ganz. Wenn unte a Loch drinne war, ht mr. Zeitunge nei. Des hat aber net lang g‘het, die waret glei wieder naß.“ (Seite 25)
Lebens- und Leidensgeschichte in Burladingen
Obwohl sie viel umherzogen, hatten die Familie zeitweise in Renningen ein Haus. Das mussten sie aber 1936 unter Zwang verkaufen. Die Familie landet schließlich in Hermannsdorf bei Burladingen. Hier arbeitet die Familie in der Gastwirtschaft „Adlerwirtschaft“ mit.
Den Kindern wurde dann mit zunehmender Ausgrenzung irgendwann der Schulbesuch in Burladingen verwehrt und sie wurden von Jugendlichen angegriffen: „Die [Kinder von der Nichte der Mutter] waret mit uns in Burladinge in der Schul, bis mir dann hen dürfe nicht weiter in die Schul gehen. Da hen die g‘sagt: Zigeiner müsse unter Jude geschätzt werde, und Zigeinerkinder und Judenkinder dürfet in kei deitsche Klasse. Da hen uns scho die obere Klasse, die mit fünfzehn, sechzehn, abgepaßt zum Verschlage.“ (Seite 46)
Es sind nicht die einzigen Schläge, die die Kinder ertragen müssen.
Ein Burladinger Polizist misshandelte die Kinder, wenn sie nicht schnell genug den Hitlergruß zeigten: „Wenn mr von obe runterkomme isch nach Burladinge und isch nach links g‘loffe, da hat ein Polizischt g‘schrien: »Stopp! Was ischt der Gruß?«
Na hasch en Tritt in Arsch kriegt, a Ohrfeig dazu, na hasch wieder müsse zurücklaufe. »Heil Hitler!«
Und wehe, du hasch en Fehler g‘macht! Grad mei kleiner Cousin, der hat die Hand amal net so hochbracht. Hat er dreimal müsse zurücklaufe, und dreimal in Arsch kriegt, dreimal ins G’sicht.“ (Seite 46)
Die Verfolgung zog mit der Zeit weiter an. Die älteren Brüder von Lolo kamen ins KZ. Andere Familienmitglieder arbeiteten in der Munitions-Fabrik von Alois Mayer in Burladingen und waren damit kriegswichtig, was sie vor der Deportation bewahrte.
Trotzdem kamen immer wieder Polizisten vorbei, um die Kinder abzuholen, aber die Bauern-Familien Baltes und Anselm versteckten sie und der Pfarrer Biener in Burladingen warnte sie.
Lolos Schwester Märza hatte eine Affäre mit einem Soldaten, wurde von der Polizei in Burladingen misshandelt und kam deswegen in Hechingen ins Gefängnis: „Na hat der an Zorn g’het und hat an Brief an die Burladinger Polizei g’schriebe und ihne verrate, daß i was mit em a deitsche Soldat han. Da hen sie mich in der Polizeiwache in Burladinge blutig g’schlage, weil i’s net zugebe han. Und nachher hen se mi vier Woche und vier Tag eing’sperrt in Hechinge.“ (Seite 72)
Berta, die Schwester der beiden, wird auch von einem Polizei-Hund schwer verletzt: „Mei Schweschter Berta hen sie au glei so g’schlage. Und der Olga hat einer von de Hund a ganzes Stück hinte rausbisse, daß sie hat müsse zum Arzt gehe.“ (Seite 61)
Die Kinder sollten in Hechingen zwangssterilisiert werden: „Und dann isch des komme, daß mir Kinder alle, Bube wie Mädle, sollet kaschtriert were in Hechinge. Mit acht, zehn Jahr waret mir grad richtig zum Kaschtriere. Daß du nachher ja net auf dumme Gedanke kommsch. Daß die Zigeiner aussterbet. Wenn je einer davonkommt, isch er kaschtriert. Daß’s da keine Nachkomme mehr gibt. Da waret sie scho g’scheit, die Deitsche. Des muß mr ihne schon lasse.“ (Seite 51)
Später sollten sie in die Vernichtungslager im Osten deportiert werden.
Während die Kinder in den Wald flüchteten, mussten sie vom Waldrand zusehen, wie ihr Vater von der Polizei zusammengeschlagen wurde.
Immer wieder entkommen Märza und Lolo nur knapp einer Deportation. Doch nicht alle Sinti schafften es zu fliehen. Andere verwandte und bekannte Sinti-Familien wurden deportiert und tauchen nie wieder auf. Zum Schatten der Familiengeschichte gehört dass der Bruder der Mutter als Kollaborateur mit der Gestapo zusammen arbeitete.
Am Rande wird in dem Buch auch von anderen NS-Verbrechen berichtet. So sollen in Burladingen 1945 russische Zwangsarbeiter von einem Polizisten namens Scheller ermordet worden sein: „In Burladingen hen sie ja au die Pole zammeg’schlage, wie sie g’wollt hen. Und der gleische Polizischt, der wo uns bewacht hat in dem Schulhaus, der hat am Schluß die Russe abg’schosse, kurz bevor d’Franzose reikomme sin.“ (Seite 58-59)
Dann ist der Krieg vorbei. Allerdings kommt es im Raum Burladingen zu Vergewaltigungen durch die französischen Besatzungstruppen, denen auch Märza zum Opfer fällt.
Die meisten Familienmitglieder wurden im Völkermord, den die Roma in ihrer Sprache „Porajmos“ nennen, ermordet: „Von dene Familie, die bei uns waret, von dene siebenundzwanzig oder neunundzwanzig Persone sind grad noch die zwei Mädle zurückkomme. Und sonscht war keiner von meim Vatter seine Leit mehr da.“ (Seite 63)
„War mei Lieblingscousine dabei. Lange Haare und alles … Mir hen ausg’macht g’het, wenn mir des überlebe und mir sin amal groß, dann heirate mir. Auschwitz. Nimmer zurückkomme.“ (Seite 67)
„Seine Verwandschaft, des waret massenhaft Reinhardt, wo sie vernichtet hen, massenhaft. Wenn die alle da wäret, den Zug, die Waggon könnet sie gar net heut nacht aufbaue.
Da sin die zwei alte Leit [seine Eltern] da obe am Berg g’sesse und hen g’weint.“ (Seite 82)
Die überlebenden Reinhardt-Kinder fangen nach 1945 so manche Schlägerei mit ihren alten Peinigern, die unbestraft davon kamen, an. Die beiden schwäbischen Sinti-Kinder bleiben der Gegend verbunden. Lolo Reinhardt starb 1994 in der Nähe von Burladingen und seine Schwester Märza lebte bei Erscheinen des Buchs in Gammertingen.
Fazit: Lokalgeschichte ohne Lokalkolorit
Das Buch ist manchmal schwer zu lesen. Einmal für nicht des Schwäbischen mächtige Leser*innen, aber auch weil die Erzählungen von Lolo und Märza sprunghaft und ungeordnet sind. Natürlich ist es auch schwer zu ertragen, was er und seine Schwester erleben mussten.
Das Schwäbische macht es aber auch authentisch und bringt Schwäbinnen und Schwaben diese Lebensgeschichte vermutlich besser näher. Das Buch sollte deswegen wieder mehr gelesen werden, wenn möglich auch in der Schule, u.a. in Burladingen, wo es spielt.
Die Leserin oder der Leser erfährt nebenbei auch etwas über die Kultur der schwäbischen Sinti. Über ihre eigene Sprache („unser Sprach“), das Romanes, oder über Rituale, z.B. in Bezug auf das Gedenken.
Die manchmal anstrengende Lektüre lohnt sich auf jeden Fall!
* Lolo Reinhardt: Überwintern. Jugenderinnerungen eines schwäbischen Zigeuners, herausgegeben von Monika Döppert, Gerlingen 1999
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